Essen und Identität

  • By DiderotAdmin
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  • Posted September 11, 2015

 

Christoph Klotter und Eva-Maria Endres

Zusammenfassung zur Kurztagung:

Mein Haus, mein Auto, mein Food

am 20.11.2015

mit Dr. Daniel Kofahl, Billy Wagner und Linda Robens

 

Vor dreißig Jahren hätte es diese Tagung nicht gegeben.

Erst in den letzten Jahren wurde Essen für die persönliche Identitätsbildung so wichtig. Menschen essen heute nicht mehr ausschließlich das, was die Tradition vorgibt. Essen geschieht weniger. Essen ist heute eine Entscheidung für einen bestimmten Essstil, der häufig mit einer bestimmten Moral verwoben ist, mit Überzeugungen, die auch ökologisch, nachhaltig fundiert sein können. Essen ist der Ort für die Selbstverwirklichung, für die Individualisierung geworden. Im äußersten Fall zimmern sich Menschen Ernährungsweisen, die höchst individuell sind, vollkommen jenseits üblicher Ernährungsempfehlungen. In der Regel werden aber bereits existierende, alternative Ernährungsweisen präferiert, die sich gegen die übliche Ernährungsweise akzentuieren wie etwa Vegetarismus oder Veganismus.

Getragen werden diese von den Gebildeteren und von Frauen.

Um etwas zu überspitzen: Vor hundert Jahren bildete sich Identität über die Präferenz einer bestimmten politischen Partei. Man war Mensch des Zentrums, der SPD, ein Genosse der KPD, häufig verbunden mit großen politischen Utopien. Im 20. Jahrhundert sind die großen politischen Utopien dramatisch gescheitert. Zur Identitätsbildung taugten sie nun weniger, es sei denn sie wären zu verbinden mit körpernahen Utopien: etwa der Befreiung des Körpers.

Die 68er Generation trachtete in Anlehnung an den Freudo-Marxismus danach, den sexuellen Körper zu befreien. Da der Körper zur Befreiung und Erlösung nicht taugt, ist dieses Konzept stillschweigend untergegangen, nicht aber die Idee der körpernahen Erlösung, die sich heute an das Essen heftet. Das, wie ich esse, soll mir Wohlbefinden, Unsterblichkeit und Erlösung erbringen.

Daniel Kofahl unterschied in seinem Eröffnungsvortrag zwischen dem physiologischen Essen und dem soziokulturellen. Er wies darauf hin, dass es nicht angemessen ist, heute von der Esskultur zu sprechen, sondern von einer Begegnung vielfältiger Esskulturen. Als Soziologe muss er sich die Frage stellen, wie organisiert eine Gesellschaft Esskultur. Wie und warum unterscheidet sie zwischen dem, was erlaubt ist zu essen, und dem, was verboten ist?

Kofahl stellt klar: Identität ist nicht Wesen, ist nicht angeboren, ist soziale und kulturelle Praxis des Aushandelns, der Bildung der Differenz zum anderen und damit zugleich die Verbindung zum anderen.

„Identität gewinnen, heißt, Abweichungen zur Norm kreieren“, so sein Credo. Das ist das Geheimnis der Vegetarier, der Veganer, etc. Sie triumphieren gleichsam in der Ausrufung einer fundamentalen Differenz. Es gelingt Kofahl die brillante Formulierung, dass man ist, was man nicht isst. Als Vegetarier bin ich nicht Fleischfresser, als Veganer bin ich kein Kükenesser in spe. Der andere ist jedoch auf eine unheimliche Art allgegenwärtig. Der andere droht die eigene Identität zu verschlingen. Jederzeit, bei jeder Mahlzeit, die sich anbietet – to go. Das sollten wir nie vergessen!

Die unbewusste Phantasie, dem anderen nicht zu entkommen, führt zur Lösung, gar nichts mehr zu essen. Kofahl nennt dies im Anschluss an Lacan Kastration, Selbst-Kastration. Ich muss mich eliminieren, um dem anderen zu entkommen, um ihm endgültig zum Sieg zu verhelfen. Was für ein grauenvolles Paradox!

Es gibt kein Entkommen! Das will Kofahl sagen. Billy Wagner, Wirt und Inhaber des Sternerestaurants Nobelhart & Schmutzig sieht das ein bisschen anders. Aber nur ein bisschen. Für ihn ist sein Restaurant der Schutzraum des Intakten. Menschen entziehen sich den Regeln des Üblichen, setzen sich in seinem Restaurant gemeinsam an einen großen Tisch, begegnen sich auf eine ganz ungewöhnliche Weise, essen nicht in dreißig Minuten, nehmen sich Zeit, ganz viel Zeit, um sich dem eigenen und dem anderen zu stellen, um die Zunge und den Gaumen regieren zu lassen und so dem anderen eine kontrollierbare Einfallstür zu bieten. Aber Genuss bedeutet auch, sich der Fiktion der Kontrolle zu entziehen. Genuss ist, an der Grenze zum Unkontrollierbaren zu operieren.

Wagner berichtet von den Stereotypen des Genusses, mit denen er tagtäglich zu kämpfen hat. Echter, luxuriöser Genuss ist für viele Kaviar, Jakobsmuscheln, Spargel etc. Die Muster mit einer regionalen Küche, mit kleinen Kohlrabiwurzeln, Sanddornöl zu brechen ist schwierig. Die Identität des Luxus ist an ebendiese gebunden.

Wenn es nicht die Menschen mit ihren Lebensmittelunverträglichkeiten gäbe, die es sich nicht nehmen lassen, das Restaurant zu betreten und ihre besonderen Anliegen zu artikulieren – für einen Koch keine einfache Situation. Die Irritationen des Lebens, die eigentlich im Restaurant ausgeschlossen sein sollten, sitzen mit am großen Tisch.

Linda Robens wähnt sich geschützter als Wagner. Ihr Veganismus ist eine sichere Burg in dieser unübersichtlichen Welt. Sie isst nicht einfach, sie nimmt das zu sich, was sie moralisch und politisch vertreten kann. Diese Kohärenz schafft eine Stringenz, die unverletzbar zu machen scheint. Wer könnte ihr was anhaben, abgesehen von denen, die sie aufgrund ihrer mangelnden Stringenz kritisieren oder diskreditieren. So berichtet sie zunächst von ihren persönlichen Beweggründen, die sie zum Veganismus gebracht haben: Als passionierte Fleischesserin trifft sie auf die Theorie des Karnismus. Ein Wort welches kaum einer kennt, welches genau Irritation verursachen soll gegenüber der allgegenwärtigen Tatsache, der Selbstverständlichkeit, dass Menschen Fleisch essen. Und ist das nicht komisch, dass unsere Gesellschaft Tierleichen isst und es keiner hinterfragt? Sie berichtet auch von ihrem Alltag mit den Omivoren, vor denen Sie sich immer wieder rechtfertigen muss, die sich angegriffen fühlen. Ihr Veganismus ist immer wieder das große Gesprächsthema am Tisch, im Restaurant, im Freundeskreis, bei der Familie. Sie wird vorgestellt als „Linda, die Veganerin“. Identität durch Abweichung von der Norm – das scheint mit dem Veganismus hervorragend zu funktionieren. Aber es bleibt eben nicht bei der Abweichung. Die moralische Überlegenheit, die der Veganismus impliziert, auch wenn er einfach nur ist, ist ein Angriff auf die Norm. Der Karnismus, die fleischessende Masse, hinterfragt eben nicht, lässt sich von den eigenen Trieben steuern, lässt kaltblütig süße Tiere töten, um dann genüsslich ihre Leichen zu verspeisen. Der Angriff auf die eigene, fleischessende Identität, das schlechte Gewissen oder der Protest wird mitserviert, wenn ein Veganer am Tisch sitzt.

Essen als Mittel zur Entfaltung der persönlichen Identität wird heute intensiv genutzt, das wurde auf vielfältige Weise deutlich. Essen ist nicht nur Teil eines Lifestyles, es bestimmt wie wir von der Umwelt wahrgenommen werden, wie wir wahrgenommen werden wollen und wie wir uns selbst sehen. Mit der Kurztagung gelang darüber hinaus ein bereichernder Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen, wofür wir den Referenten nochmals ausdrücklich danken!

 

Bild Billy Wagner: Marko Seifert

Bild Linda Robens: Timo Stammberger

DiderotAdmin
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